Artikel von Salama Inge Heinrichs
Januar 1999
Dazu muß man sich erst mal fragen: „Was ist Therapie und was soll geheilt werden?“
Fest steht, daß viele Menschen, um nicht zu sagen, eigentlich alle, in ihren Mustern, Konditionierungen und Glaubenssätzen festhängen, ohne sich deren bewußt zu sein. Sie halten für ihre eigene Entscheidung, was ihnen aufgezwungen, eingeredet oder nahegebracht worden ist, im Elternhaus, in der Schule, in Kulten und kulturellen Ausdrucksergebnissen des Zeitgeistes, der eine Zivilisation bestimmt.
Diese Irreführungen, die uns daran hindern unser wahres Wesen und unsere eigene Realität zu erkennen, müssen im Laufe des Lebens erkannt und revidiert werden, wenn es Wachstum, Entwicklung und Bewußtsein werden soll, was so verheißungsvoll mit jeder Geburt angefangen hat. Der Prozeß der Selbsterkenntnis und damit der Erkenntnis der Welt und der über die sinnlichen Erfahrungen hinausgehende Erkenntnis der kosmischen Realität, ist Heilung der Seele, die sich aus Verstrickung, Verwirrung und Verblendung (er)-lösen möchte.
Letztlich ist geistige Verwirrung nichts anderes als ein Gefangensein in Konditionierungen, aus denen sich die Seele nicht mehr selbst befreien kann. Um uns selbst zu erkennen, brauchen wir Spiegel: die anderen, Partner, Kinder, Freunde und Feinde, die uns zeigen können, wie und wer wir sind, und denen auch wir helfen können sich selbst zu erkennen, indem wir ihnen den Spiegel vorhalten.
Wenn das im „normalen“ Leben passiert, gibt es oft Streit und Zerwürfnisse, denn niemand mag dem anderen zugestehen, Dinge zusehen, die er selbst nicht bei sich sehen mag und verleugnet oder verdrängt.
Sich gegenseitig Spiegel zu sein – das muß gelernt werden. Aber was wird in der Schule schon gelernt? Nichts über Kommunikation, über Wahrnehmung, über Gefühle, Sexualität, Projektion, Beziehungen, nichts über Meditation oder über Tod. Diese Gebiete bleiben dem Einzelnen selbst überlassen. Er muß sie ausprobieren, seine Erfahrungen machen und bleibt oft genug stecken, festgefahren in „Eigensinn“, in selbstgebastelten Weltbildern, welche immer nur eine Schale sein können, die den eigenen Wesenskern zwar behütet, aber auch einschränkt und behindert.
Therapie in diesem Sinne ist also nicht nur Heilung von Neurosen und dergleichen, sondern eine Erweiterung des Weltbildes, ein Erkennen der eigenen wesenseigenen Qualitäten. Ist ein Entwickeln jener Kreativität, die uns dazu führt, allen Willfährigkeiten des Lebens angemessen zu begegnen, sich nach jeder Niederlage wieder zu erheben und sich mit neuen Kräften der Realität zu stellen.
Um diese Kräfte zu befreien, müssen die Fesseln erkannt worden sein, welche uns in den ersten Lebensjahren angelegt wurden und auch jene, die wir uns selbst auferlegt haben, um zu überleben oder um uns einzuordnen in enge Verhältnisse oder Beziehungen um des lieben Friedens willen, in denen aber unsere Seele verhungert.
Wer seine Lage erkannt hat, wird handeln. Er wird die selbst gewählte Disziplin aufbringen – nachdem er die Disziplinierungsschäden seiner Kindheit beseitigt hat – um sein Leben nach seiner Intuition zu gestalten, in Verbindung mit sozialer Intelligenz, die notwendig ist, um in einer Gemeinschaft sich selbst zu realisieren ohne die anderen zu schädigen oder zu stören. Dass dabei auch Heilung körperlicher Gebrechen passieren kann, ist verständlich, denn wenn die Seele heilt, braucht der Körper keine Krankheitssignale mehr aussenden, um die Aufmerksamkeit auf Fehlverhalten oder schädliche Einstellungen zu lenken. Von daher betrachtet hat jeder (oder fast jeder) Zeitgenosse es nötig, mal eine Strecke seines Lebens mit einem Lehrer (Therapeuten), einem weisen Menschen und mit Gleichgesinnten die Sehnsucht der Seele zu erforschen und Techniken zu lernen, wie er sich dann auch selber weiterhelfen kann.
Therapie in diesem Sinne ist nichts weiter als eine Lebensschule, in der die Lernprozesse und Lernnotwendigkeiten nachgeholt werden, welche in der Jugend und in der Schule versäumt worden sind. Es geht darum, die „Verrücktheit“ der Zivilisation zu erkennen, das Weggerückt sein vom Eigentlichen, Wesentlichen, und zu lernen zum Wesentlichen zurückkehren zu können- zu unserem wahren Selbst und zu der Erkenntnis, daß wir alle Erben des Kosmos sind, Zeugen einer Realität, die sich in uns ausdrückt, verwirklicht und weiter entwickeln will.